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Portraittext von Manfred Wenninger | Im Interview mit Martin Demmler

DIE TRADITION SCHEINT AUFGEBRAUCHT…

Die Tradition scheint aufgebraucht, das Pathos des Neuen vergilbt. Bernd Frankes Musik ist sich bewusst, dass wir unsere Geschichte nicht wechseln können wie Unterwäsche, dass ein Leugnen unserer Geprägtheit durch sie bloße Veränderung wäre. Sie spielt mit den Klängen und Instrumenten, den Formen und Gehalten mitteleuropäischer Kunstmusik, doch nie rückwärtsgewandt, sondern stets sorgfältig die aktuelle Dimension ihres Verbraucht- und Zerrissenseins mit einem wachen Bewusstsein sondierend, das die klassische Utopie von der Folie des zeitgenössischen gesellschaftlichen Zustandes betrachtet. So wenig Bernd Franke tabula rasa macht, so wenig geht er dem horror vacui, der uns aus der Abgelebtheit der Tradition entgegenspringt, aus dem Weg. Seine Dekonstruktionen attackieren die Tradition vielleicht schärfer als zahlreiche auf den ersten blick radikalere Neuansätze, indem sie die bestehenden Apparate unversehens in dramatis personae eines konfliktgeladenen Theaterstücks verwandeln.

Das Spiel, das Bernd Franke in Gang setzt, ist ein schwarzes, oft ein böses. In der „Music for Trumpet, Harp, Violin and Orchestra“ eröffnet er den Musikern nicht wie andere seiner Kollegen, die wie er das anachronistisch gewordene Hierarchiedenken im Orchester problematisieren, Freiräume und neue Kommunikationsstrukturen; sein Spiel ist ausnotiert; er behält die Fäden, an denen er die Figuren seines Spiels führt, hier fest in der Hand. Deren Textbuch besteht aus den Resten, die der Erschöpfungsprozess des klassisch-romantischen Denkens zurückgelassen hat. An die Stelle dessen, was einmal motivisch-thematische Arbeit hieß, tritt ein Sich-Abarbeiten an ihren Trümmern. Hatte das dialektische Prinzip der Sinfoniker Konflikte im Sinne eines Fortschreitens idealistisch gefasst und so die Versöhnung eines emphatisch begriffenen Individuums mit der Gesellschaft geträumt, so werden die Konflikte für die Figuren des Frankeschen Spiels zu unlösbaren Gegensätzen, zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Stärker noch als sein bislang größtes sinfonisches Werk ist das viersätzige Klaviersolo
„For Wols ( It’s all over)“ ein Endspiel. Aber es führt nicht wie beim Schach oder beim Fußball zur Entscheidung; „Endspiel“ wäre hier eher im Sinne Becketts zu verstehen, als „altes, von jeher verlorenes Endspiel“. Wo die „Music for Trumpet, Harp, Violin and Orchestra“ die Dialektik von Einzelnem und Gesellschaft einfror, da verlagert das Klaviersolo den Prozess ins Individuum selbst. Entwicklung findet hier, wenn überhaupt, nur noch in kleinsten, oft stotternden Dimensionen statt, tendiert dazu, zum entwicklungslosen Punkt zu erstarren. Die Gestaltung der Zeit ist signifikant: Ins Leere laufende sinnlos-motorische Passagen stehen neben stagnierenden Verläufen; abrupte Abbrüche lassen die Gestalten unvollendet. Am Ende die äußerste Entgegensetzung: zwei gegenläufige Stimmen in weit auseinandergespreizten Lagen. In einen Widerspruch von scheinbarer Statik und heftigem Ausbruch transformiert finden sich die beiden inspirierenden Ausgangspunkte, auf die der Titel anspielt: Die Bilder des Anfang der 50er Jahre verstorbenen Malers Wolfgang Schulze, dessen abstrakte Werke Franke als teils filigran-schweigsam, teils als heftig expressiv beschreibt, und Frankes Gedanken und Empfindungen während des Golf-Krieges, der zur Zeit der Komposition von „For Wols (It’s all over)“ tobte.

Am Ende sitzen die Figuren von Bernd Frankes musikalischen Spielen zwischen dem Schrei und der Stille in gläsernen Kästen – zerbrechlich, in äußerster Entfernung. Wo die Gattung der Kammermusik ihr klassisches Pathos einst daraus bezog, geglückte Kommunikation zu sein etwa als „Gespräch vernünftiger Menschen“ -, wo diverse moderne Neuansätze durch das Einbeziehen realer kommunikativer Handlungen in den interpretatorischen Prozess dieses Pathos zu erneuern versuchen, da verwandelt sich dem Realismus Frankes Kammermusik in die musikalisch-szenische Darstellung einer Unheilsgeschichte. – „Hoffnung als ein Hauch…“ heißt seine „Musik für Violine, Violoncello und Klavier“ im Untertitel. Ob sich in den stets nur kurz inmitten der Stille und den Schreien aufblitzenden ungebrochenen musikalischen Gestalten allerdings so etwas wie eine “ schwache messianisch Kraft“ verbirgt, scheint zumindest fraglich angesichts des Misstrauens, das Franke gegenüber jeglicher dialektischen Synthesenbildung, gegenüber allen Trugbildern der Versöhnung hegt.

Dieses Komponieren, das sich solcherart mit autonomen musikalischen Mitteln der Wirklichkeit aussetzt, muss sich an den Trümmern der Vergangenheit dekonstruierend abarbeiten, die ihm keineswegs beliebig verfügbar sind. Das alles vergleichgültigendem Spiel im Supermarkt des post-histoire ist ihm ebenso verwehrt wie der Rückzug auf ein selbstgewähltes autistisches Kompositionssystem, gleich welche terra incognita ein solches Gefängnis auch simuliert. Die Tradition scheint aufgebraucht, das Pathos des Neuen vergilbt.

In der Werkgruppe „Solo xfach “ verschärfen sich die beschriebenen Aspekte von Frankes Komponieren zu äußerster Kenntlichkeit. Den Begriff der musikalischen Gattung lösen sie von innen her vollständig auf. Seit dem 1988 geschriebenen, an Joseph Beuys Idee der sozialen Plastik ansetzenden „Solo 3fach“ für Violine, Horn und Klavier entstanden bislang in einem offenen work in progress, das in Frankes Kopf wuchert und sich nahezu täglich erweitert, „Solo 6fach- erstarrt“ für Schlagzeugensemble, „Solo 2fach – in Annäherung (I)“ für Flöte und Klavier, „Solo 7fach- in Distanz“ für eine wandernde Posaune und sechs Instrumente, „Solo 2fach – in Annäherung (II)“ für Oboe und Klavier, „…in Annäherung“ für Klavier solo, „Solo 4fach- überlagernd“ für E-Gitarre, Bandoneon, Harfe und Violine, „Solo 2fach – in Annäherung (III)“ für Viola und Klavier, „Solo 5fach – zerbrechend“ für Bläserquintett, „Solo 9fach – ins Unendliche“ für Pipa und Ensemble und „Solo xfach – tape (I-IV)“.

Kammermusik also ? – Ja, aber im Zustand äußerster Vereinzelung: In der freien Notation, die Franke seit 1994 verwendet, wird jeder Spieler als Solist verstanden, und zwar nicht bloß im Sinne eines primus inter pares, sondern quasi als Autist: Er soll seinen Part vollkommen für sich gestalten, ohne auf die anderen zu hören; gemeinsame Proben sind auf ein Minimum reduziert. Das Zusammenspiel ist nicht durch eine gemeinsame Partitur geregelt; die Musiker orientieren sich statt dessen an einer Stoppuhr, ohne aufeinander zu achten.

Solomusik also? – Sicher, doch wird durch solches Komponieren der in triumphal-virtuoser Selbstbehauptung auftrumpfende Solist genauso verabschiedet wie der Prozess geglückter musikalischer Kommunikation. An deren Stelle tritt das Nebeneinander Vereinzelter, stets in der Gefahr sich gegenseitig zu neutralisieren. Gemeinsamkeit – etwa im schwebungsreichen Gesamtklang aller Instrumente – ist nur scheinhaft.

Diese Art des musikalischen Zusammenspiels resultiert ebenso sehr aus der Konfrontation klassischer Formen mit aktueller sozialer Realität wie es fast unbegrenzte Trennbarkeit und unübersehbare Kombinationsmöglichkeiten der Einzelstimmen ermöglicht. Allesamt aus einer gemeinsamen Urform entwickelt, sich an analogem Material abarbeitend im Feld zwischen

Form und Formlosigkeit, zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Diktatur und Anarchie sich bewegend oder erstarrend werden sie durch simultane Schichtungen immer wieder neu beleuchtet. So wird das “ Solo xfach“- Projekt zu einem unabschließbar wachsenden lebendigen Organismus. Die ersten Simultanaufführungen mehrerer Einzelstücke wurden erprobt und längst ist in Frankes Kopf die Idee einer Gesamtaufführung herangereift, in der sich neun Spiele mit insgesamt 44 Soli zu einem Orchester verbinden, das von innen her zerrissen, gesprengt und verfremdet ist: In der Tat, „Solo xfach“ ist sinfonische Musik.

Die Untertitel der Stücke markieren den gestischen Charakter dieser Musik. Stets ist sie ein soziales Spiel im Medium des Klangs. Keiner dieser Aspekte darf übersehen werden, will man diese Musik nicht vollständig verfehlen: Die Rückbindung an zwischenmenschliche Realität und die Beschränkung auf die Sprache klingender Musik.

Frankes Musik, gleich welche Werke bildender Kunst sie im Einzelfall inspiriert haben, enthalten keine darstellbaren Bilder, sie transformieren vielmehr gestische Vorgänge in musikalische Prozesse. Der ikonoklastischen Musik des großen Amerikaners Morton Feldman ist das mitteleuropäische „Solo xfach“ durch die gestische Aufgeladenheit so fern wie sie ihr durch die Klangsprache nahe ist. Wenn ein Konzert den sozialen und kommunikativen Aspekt dieser musikalischen Szenen durch die Einbeziehung räumlicher Parameter – Aufstellung und Bewegung der Musiker im Konzertsaal – sichtbar macht, dann durch eine bewusste Gestaltung der Konzertsituation, nicht durch eine Verwandlung der Musiker in Schauspieler. Bewegung, Farbe, Licht, Videokunst, Vokalstimmen kann und wird Bernd Franke zukünftig in dieses Projekt mit einbeziehen, doch wird jede dieser Ebenen eine Transformations- und Abstraktionsleistung zu erbringen haben, die das zugrundeliegende gestische Bild in einer je eigenen Sprache aufhebt: Gewiss, „Solo xfach“ ist Musiktheater.

Schon die Urform von „Solo xfach“ hat eine viersätzige Dramaturgie. Erst der Verfremdung der Tradition, beispielsweise durch die Vorliebe für heterogene, klassische Modelle aufsplitternde Besetzungen oder die Koordination der Soli über einen Time – Code, entspringt ein substantiell Neues. Die Aufführungen dieser Musik lösen sich ab vom zum Zerrbild verkommenen Konzertritual wie von der narrativen, einer linearen Zeitachse folgenden Dramaturgie, die ihren Ausgangspunkt markierte, und verwandeln sich in skulpturale Prozesse, für die Franke, inspiriert von einem in der Aufstellung der Musiker räumlich erscheinenden Grundgestus, eine Ausgangssituation, ein musikalisches Feld schafft, in dem sich, teils kontrolliert, teils unvorhersehbar, die Musik entwickelt: Klar, „Solo xfach“ ist Klangskulptur, ist Installation.

Es gibt Passagen, in denen das Schlagzeug etwa einen deutlich nachvollziehbaren Puls spielt. Sofort beginnt man, geprägt durch unsere Tradition, den Zusammenklang der Instrumente als äußerst komplexe rhythmische Schichtungen zu hören. Diese sind im Kopf des Hörers ebenso real wie sie im Schreiben des Komponisten oder im Spielen der völlig für sich und höchstens unbewusst von diesem Puls beeinflussten Musikern einfach nicht vorhanden sind: Natürlich, „Solo xfach“ ist die Reflexion über Wahrnehmung und die historischen Prägungen unseres Hörens.

Von einem Komponisten, dessen Instrumentalmusik es derart zur gestisch inspirierten musikalischen Szene drängt, ist kaum eine musikalische Bebilderung einer Erzählung auf der Opernbühne zu erwarten, eher die Transformation theatralischer Situationen und Vorgänge in der Musiksprache. Schon der Text von „Mottke der Dieb“ ist Ergebnis mehrerer Verwandlungsprozesse: Mit Hans Werner Henze, der das Stück für die Münchener Biennale in Auftrag gab, erarbeitete Franke das Exposé; das nach dem Schelmenroman des jiddischen Schriftstellers Schalom Asch von Jonathan Moore geschriebene englischsprachige Libretto hat er ins Deutsche übersetzt und dabei bearbeitet. So wundert es nicht, dass in der Geschichte von Mottke, der auf der Flucht aus dem ärmlich-kriminellen Milieu seiner Herkunft zunächst in einem Zirkus unterkommt, dessen Scheinhaftigkeit jedoch nicht erträgt, der seinen Kollegen Kanarik umbringt und mit dessen Identität seine Zuhälterkarriere beginnt, diese verlogene Existenz aber ebenso wenig aushält, gerade die Aspekte akzentuiert werden, die auch bislang das Schaffen Frankes prägten: Die Isolation des Vereinzelten, die sich im drastischen Bild eines die Bühne beherrschenden und von Franke als Musikinstrument verwendeten Käfigs niederschlägt…die Ausweglosigkeit einer durch und durch und notwendigerweise scheinhaften Existenz…die Verwandlung alles Geschehens in Endspiele…die Gleichzeitigkeit des Heterogenen in der Wahl der Instrumente, die eine Ensemblebesetzung um elektronische Mittel wie um Bandoneon und E-Gitarre erweitert, ebenso wie in bis dato von ihm so nicht bekannten komplexen Schichtungen verschiedener Zeitebenen und Tempoverläufe…der Widerspruch zwischen komplexer Ordnung und geräuschhaft dominierter Anarchie, von heftiger Bewegung und eingefrorener Statik. Die Dialektik von Schrei und Stille ist hier zu extremer Gestalt herangewachsen: An den Peripetiepunkten der Oper – der Szene, in der Mottke verprügelt wird; dem Mord an Kanarik, dem Ausbruch Mottkes aus der Unerträglichkeit seines verlogenen Daseins und im Finale – verstummt der Gesang : „rituelle Musiken“, strukturell den Kompositionen des „Solo xfach“- Zyklus vergleichbar, oder konzeptuelle Instrumentalschichtungen treten an dessen Stelle. Der expressive Aufschrei hingegen erfolgt still. Oper – und „Mottke der Dieb“ nennt sich im Untertitel provozierend „Oper“ – hatte ihr Wesen einst in der Stillstellung des Geschehens in der expressiven Arie, die das Scheitern in der Geschichte transzendierte, indem die singende Figur das Ideal bürgerlicher Individualität „unveränderlicher Selbstheit und unbedingter Freiheit“ (Schelling) sterbend realisierte. Dramaturgisches Ausbrechen aus der narrativen Linie findet sich in der Szene, in der Mottke seine Identität „outet“, ebenso wie Expressivität; Jedoch erscheinen diese monadisch und zurückgenommen. Dies scheint nur konsequent angesichts der Trümmerlandschaft, die vom Individualitätspathos des deutschen Idealismus übrig geblieben ist. Franke ist auch in „Mottke der Dieb“ seinem Traditionsverständnis treu geblieben: Tradition wird ebenso wenig geleugnet wie museal restauriert, eher angesichts der Realität dekonstruiert und unter neuen Prämissen umfunktioniert. Insofern steckt vielleicht in dem Sinuston, der die Oper nach einem langen Verlöschen endet, doch noch ein Rest von Transzendierung geschichtlichen Scheiterns: reiner Klang. (Manfred H. Wenninger/ Hessischer Rundfunk – Portraittext 3/98)

„Ich habe diesen langen Atem einfach gebraucht!“

(erschienen in NZfM 9/02)
Der Komponist Bernd Franke im Gespräch mit Martin Demmler

M.D.: Ihr Zyklus „half – way house – SOLO XFACH (für Joseph Beuys)“ existiert ja in vielen verschiedenen Versionen und kann in immer neuen Zusammenstellungen realisiert werden. In welcher Fassung werden Sie ihn denn in Ulm im Rahmen des Festivals „sakral / profan“ präsentieren?

B.F.: Die Ulmer Fassung ist eine Simultanversion für 11 Instrumente, basierend auf 3 Werken aus dem Zyklus, angefragt von dem Leiter des Festivals Jürgen Grözinger. Was Grözinger daran vor allem reizte waren die verschiedenen räumlichen und strukturellen Komponenten dieses Stücks: Bewegung im Raum mit unterschiedlichen szenischen Anweisungen, dadurch entstehende Klang-Raum-Bewegungen und energetische Verläufe des Stückes, vom Ansatz her ähnlich wie bei einer Installation von Beuys. Durch eine zweimalige Aufführung an jeweils unterschiedlichen Orten wird auch die Funktionalität des Stückes hinterfragt. Am 5.10. wird es eine Aufführung im Münster geben, am 12.10. im Ulmer Stadthaus, also zuerst ein klar definiertes sakrales Gebäude und dann ein eher profaner und sachlicher Aufführungsort.

M.D.: Was war denn der gedankliche Ausgangspunkt ihres Beuys-Zyklus?

B.F.: Es gibt bei diesem Projekt, an dem ich jetzt schon 14 Jahre arbeite, verschiedene Ansatzpunkte: Bezüge zur Naturwissenschaft und zur Soziologie, aber auch zur Philosophie und zur Religion. Ein wichtiger Denkansatz war neben der Schrift „Die soziale Plastik“ von Beuys und seinen künstlerischen Arbeiten auch das Buch „Gott und die Wissenschaft“ des Franzosen Jean Guitton. Guitton gilt als der wichtigste christliche Philosoph des 20. Jahrhunderts, wobei er in diesem Buch mit den beiden Physikern Bogdanov naturwissenschaftliche, soziale, gesellschaftliche und dadurch bedingt natürlich auch religiöse Fragen in einer hochaktuellen Art und Weise diskutiert und analysiert. Diese Form der Auseinandersetzung mit Umwelt und Realität bei Beuys und Guitton interessiert mich als geistiger Ansatz schon länger in meiner eigenen kompositorischen Arbeit, so z. Bsp. das Verhältnis von Masse und Individuum, welches sich als Thematik in meiner Arbeit im Laufe der Jahre immer mehr verfeinert, differenziert und modifiziert hat.

Wie geht man mit offenen und geschlossenen Systemen um, wie funktionieren funktionale Ansätze in Hierarchien, das Verhältnis von Ordnung und Chaos, von Freiheit und Strenge, wie spiegelt sich soziale und gesellschaftliche Entwicklung in musikalischen Systemen strukturell und geistig wider, welche Orte des Hörens werden für uns wichtig werden, was kommt nach dem Orchester und der Partitur, wie soll der Hörer des 21. Jahrhunderts eigentlich HÖREN. Diese Fragen beschäftigen mich seit langem und haben natürlich einen gewichtigen Einfluß auf meine eigene Entwicklung gehabt.

M.D.: Was fasziniert Sie an dem Schaffen von Joseph Beuys so, dass es Sie in Ihrer Arbeit schon seit vielen Jahren beschäftigt?

B.F.: Was mich nach wie besonders an Beuys interessiert, sogar immer mehr fesselt ist eigentlich sein Wille, an bestimmten Dingen langfristig zu arbeiten und natürlich seine Visionen, die er formuliert hat. Es gibt ein ganz bemerkenswertes Interview vom 10. Mai 1984, in dem er über künstlerische und soziale Utopien spricht und wenn man das nach 18 Jahren wieder liest, dann ist das für mich zum größten Teil immer noch hochaktuell und präsent. Wenn man sich über Jahre mit einem anderen Künstler oder Philosophen beschäftigt und auseinandersetzt, dann entdeckt man ständig neue Facetten. Ich habe meinem Beuys-Projekt vor einiger Zeit einen Übertitel vorangestellt „half way house“, „Zwischenstation“, da das gesamte Beuys-Projekt eine Zwischenstation für mich darstellt, etwas fragmentarisch – unfertiges, gebrochenes („zerbrochene Symmetrie“, Zitat Guitton), auf dem Weg zu einem noch nicht klar erkennbaren künstlerischen Ziel, zu neuen Ufern hin, zu neuen Begrifflichkeiten. Was ist dieses Projekt eigentlich? Sind es Solostücke oder Kammermusik, oder ist es ein Orchesterwerk? Von alledem etwas, aber dennoch fehlt eigentlich eine Kategorie dafür (vielleicht ist es gut so?!).

M.D.: Wie ist der Zyklus aufgebaut?

B.F.: Der Zyklus besteht aus verschiedenen Kammermusikstücken, vom Duo bis zum Nonett reichend, die dann später fast alle in einen Pool gewandert sind und die miteinander kompatibel, also simultan aufführbar sind – ähnlich wie das schon Cage praktiziert hat. Es gibt nur Einzelstimmen, keine Partitur und die Musiker spielen mit Hilfe einer Stoppuhr. Ab „Solo 7fach – in Distanz“ von 1996 existiert ein timecode von exakt 20 Minuten, der dann später auch in allen weiteren Stücke wiederverwendet wird. Dieses Projekt hat sich im Laufe der neunziger Jahre immer weiter verästelt und verfeinert, so dass bestimmte Szenarien, Choreographien entstanden sind, die zum Teil auch an eine archaische oder religiöse Symbolik erinnern. So gibt es etwa den Kreis, das Quadrat, es gibt Achsensysteme, wie häufig auch in den Werken Sofia Gubaidulinas, die gern mit dem Symbol des Kreuzes arbeitet. Ein solches Achsensystem gibt es etwa bei „Solo 9fach“ oder den Kreis bei „Solo 6fach“. Diese szenischen Choreografien sind, wie auch die einzelnen Stimmen, miteinander kompatibel. Das heißt, es kann zu einer sehr starken Vernetzung kommen, einer Simultanvernetzung ähnlich wie in der Quantentheorie. Es existieren parallele Welten, die zur gleichen Zeit entstehen, zur gleichen Zeit ablaufen, ähnlich wie eine höchst komplexe simultane Videoinstallation mit mehreren Filmen.

Für Ulm habe ich drei Stücke mit unterschiedlichen Szenarien ausgewählt. Für künftige Aufführungen habe ich zum Teil vor, mehrere Simultanaufführungen zur gleichen Zeit zu starten, aufführbar in benachbarten miteinander verbundenen Räumen. Von Cage und Isang Yun sind strukturell bzw. vom geistigen Denkansatz her solche grundlegenden Elemente wie Stille und Atem eingeflossen. Jedes Stück des Zyklus beginnt mit Stille und danach, wenn Bläser beteiligt sind, beginnen diese immer mit Atem und all diese Stücke enden auch mit Atem und Stille. Dieser Bogen führt natürlich beim Hören und beim Hörer selbst zu grundlegenden elementaren Erlebnissen.

M.D.: Verändert sich die Musik eigentlich, wenn sie in verschiedenen Räumen gespielt wird?

B.F.: Der Raum, die akustischen Gegebenheiten, die Energie, die in einem bestimmten Raum entsteht, das ist sehr wichtig für die Aufführungen meiner Musik, besonders bei dem Beuys-Zyklus. Ein Musiker ist ja nicht nur ein Mensch, der nüchtern und mechanisch Töne produziert, sondern er hat auch einen Atem, bringt eine Einstellung zur Musik mit, er bewegt sich im Raum, verändert Positionen, bringt zum Teil auch pantomimisches Spiel mit in die Aufführungen ein. Es gibt auch einen Energieverlauf innerhalb des Stückes, eine zunehmende Dichte, die beim Hörer emotional wirkt, außerdem habe ich auch Licht- und Videoinstallationen mit in die Aufführungen mit einbezogen. Gern würde ich auch mit Architekten zusammenarbeiten, um auszuloten, ob es Möglichkeiten gibt, Räume für meine Zwecke umzubauen und technisch-akustisch zu verändern, gerade auch von der Position des Hörers aus gesehen.

M.D.: Wenn Sie die Wichtigkeit des Raumes so betonen: sind das dann vielleicht sogar zwei verschiedene Stücke, die da in Ulm zur Aufführung kommen, einmal im Münster und einmal im Stadthaus?

B.F.: Auf alle Fälle. Ich spreche da auch von einem Chamäleonprinzip bei diesem Stück, weil es immer wieder in anderen Versionen und mit anderen Farben erklingen kann und das wird natürlich völlig anders im Münster wirken als im Stadthaus, davon bin ich überzeugt.

M.D.: Jedes dieser Teilstücke besteht ja aus mehreren Abschnitten. Bleibt denn der formale Verlauf erkennbar, auch wenn die Stücke simultan aufgeführt werden?

B.F.: Die Urform ab „Solo 7fach“ besteht aus vier Teilen, vergleichbar vier völlig unterschiedlichen Feldern und/oder Phasen. Die erste Phase oder der erste Satz ist stark von Statik geprägt, der zweite vor allem von Pulsation. Der dritte Satz basiert auf dem Zentralton „a“ und auf einem Zwölftonakkord, der mikrotonal verändert wird und der vierte Satz ist quasi ein Torso. Dieser Aufbau führt für mich persönlich zurück zu den Ursprüngen der europäischen Sinfonie, die mich als jugendlichen Hörer sehr stark geprägt hat, auch als Student . Ich habe während des Studiums sehr viele Konzerte im Gewandhaus besucht und mich sehr intensiv mit der europäischen Sinfonik beschäftigt. Ich denke, dass diese Viersätzigkeit auch bei diesem Stück eine wichtige Rolle spielt. Es entstehen natürlich auch Emotionen und nicht nur intellektuelle oder strukturelle Eindrücke, zumal dieses Stück einen ziemlich langen Atem hat und diese Phasen, diese vier unterschiedlichen Abschnitte immer innerhalb eines längeren Zeitraumes von fünf oder sechs Minuten entwickelt werden.

M.D.: Wie definieren Sie sich als Künstler?

Auf einige meiner kompositorischen Ansätze bin ich ja in meinen vorhergehenden Ausführungen eingegangen, z. Bsp. in welchem Kontext ich selbst als Komponist stehe und welche Funktionen meine Musik erfüllen kann? Wie reagiert man am Beginn des 21. Jahrhunderts auf den Musikbetrieb als Komponist: auf das Orchester, die Kammermusikensembles, die Festivals, das musikalische Establishment, die Rituale und kommerzialisierten „crossover“ – Erscheinungen, den event – Charakter? Diese Dinge habe ich immer sehr stark reflektiert und habe versucht, sie bei diesem Beuys-Projekt über Jahre hinweg detailliert zu beobachten. Eine Konsequenz war dann, dass ich 1998 mein eigenes Ensemble gegründet habe, um unabhängig zu sein von den ritualisierten und z. T. festgefahrenen Strukturen des normalen Konzertbetriebs. Ich wollte mit Musikern zusammenarbeiten, die den Mut haben, über einen längeren Zeitraum an bestimmten Projekten zu arbeiten. Einige von ihnen haben mittlerweile über 20 Aufführungen mitgespielt und da gibt es enorme Veränderungen in den Denkansätzen der Interpreten. Wir haben zahlreiche Gespräche geführt, in denen wir über unterschiedlichste Themen sprechen. Wie fühle ich mich als Kammermusiker, der an einem solchen Projekt mitarbeitet, und einen ganz anderen Entscheidungsspielraum hat als jemand, der im Orchester spielt? Da einige dieser Interpreten auch an Musikhochschulen pädagogisch arbeiten, hat das auch Auswirkungen auf die Ausbildung der Studenten. Ich habe zum Beispiel in einer Oboenklasse in Stuttgart einen Vortrag gehalten über das Projekt und danach haben wir mit den Studenten über die Art der Interpretation gesprochen. Wie spielt man, wie erarbeitet man eine solche Stimme und ein Stück, das nicht als Partitur notiert ist? Das hat natürlich auch Auswirkungen auf ihr späteres Spiel und ihr Interpretationsverhalten etwa in einem Orchester, wenn sie auf diese Art Erfahrungen sammeln konnten.

M.D.: Ist das wichtig für Sie, unabhängig vom Musikbetrieb oder Veranstaltern von Festivals zu sein?

B.F.: Es war für mich viele Jahre sehr wichtig, eine Distanz zu haben, auch zu meinen Wurzeln. Ich brauchte diese Unabhängigkeit, diese autarke Haltung, um meinen Weg konzentriert zu gehen. Und ich glaube, es hat sich für mich gelohnt, weil es für mich von zentraler Bedeutung war, über lange Jahre und mit langem Atem an einem Projekt zu arbeiten. Aus dem Beuys-Zyklus haben sich wieder neue Denkansätze und Arbeitsweisen ergeben, ich habe kompositorische Methoden weiterentwickelt und neue formale Lösungen ausprobiert und erarbeitet. Denkansätze aus diesen umfangreichen Erfahrungen haben Eingang in die neueren Stücke der letzten Monate gefunden. Viele Arbeiten wären ohne die Erfahrungen von „half – way house – SOLO XFACH (für Joseph Beuys)“ gar nicht möglich gewesen. Ich habe diesen langen Atem einfach gebraucht!

15.7.02